19:00 Einführungsgespräch in der Klosterbibliothek
Bevor Bach 1723 Thomaskantor als Nachfolger Johann Kuhnaus wird, scheitern Georg Philipp Telemann, Christoph Graupner, schließlich Joh. Friedrich Fasch, Georg Lencke, Joh. Christian Rolle, Georg Balthasar Schott und Joh. Martin Steinhoff mit ihren Bewerbungen. Telemann ist wegen seiner Music in der Welt bekannt und deshalb Wunschkandidat des Rates, zieht aber seine Bewerbung trickreich zurück und bekommt in Hamburg – da will man ihn natürlich behalten – eine satte Gehaltserhöhung.
Warum scheint Bach als Kuhnau-Nachfolger zunächst keine ideale Besetzung für den Leipziger Rat zu sein? Sind seine Kantaten zu fortschrittlich, zu kunstvoll und zu ausgefallen als Stoff für die Thomasschule?
Ist sein Lebenswandel mitunter fragwürdig? Immerhin legt er ein Verhalten an den Tag, das sich herumspricht. Er gilt als selbstbewusst und streitbar, verlangt sein Recht, neigt zu Jähzorn und ist durchsetzungsfähig. Das beweist er schon als Zehnjähriger durch nächtliches Abschreiben von hinter Schloss und Riegel aufbewahrten Noten bei seinem Bruder, in dessen Familie er nach dem Tod des Vaters lebt. Für unangepasstes Selbstbewusstsein spricht eine um gut vier Monate überzogene Reise zu Buxtehude in Lübeck, was ihm bitteren Ärger einbringt. In Arnstadt wird er mehrfach von der Kirchenbehörde vorgeladen: Er unterweise die Chorschüler schlecht! Und es gibt Beschwerden über sein eigenwilliges Orgelspiel, durch das er die Gemeinde mit wüsten Modulationen verwirre und er habe sich trotz Verbots mit einer Frau auf der Orgelempore aufgehalten.
Halsstarrig und einsilbig kommentiert er derlei Vorwürfe und erträgt in Weimar eine vierwöchige Karzer-Inhaftierung bei Wasser und Brot, weil er hartnäckig seine Entlassung aus den Diensten Herzog Wilhelm Ernsts fordert. Im Zorn zieht er schon mal den Degen, um auf offener Straße seine Kritik an einem Zippelfagottisten zu verteidigen. Alle seine Wesenszüge lassen ihn bis zu seinem Wechsel nach Leipzig Werke schreiben, die in ihrer Zeit einzigartig modern, aber womöglich keine ideale Visitenkarte für das altehrwürdige Leipziger Amt sind. Heute ist kaum vorstellbar, wie ungewöhnlich 1707 eine seiner ersten Kirchenkantaten Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit wirkt. Niemand wird damals diese „Neue“ Musik als „Beginn“ einer beispiellosen Komponistenlaufbahn gehört haben. Die Mendelssohns schätzen die Kantate besonders und Fanny schreibt 1834 an Felix: Heut spielte ich so mattes, lahmes, grundlangweiliges Zeug, dass ich im Durchspielen fast verschimmelte und zur Erholung Gottes Zeit spielte. Ah!! Dabei wird einem wieder wohl. Ich kenne keinen eindringlicheren Prediger als den alten Bach. Schöneres kenne ich nicht als das „es ist der alte Bund“, wozu die Soprane rührend einstimmen: ja komm Herr Jesu! komm.
Die Kantaten dieses Programms – und nicht zuletzt Ich hatte viel Bekümmernis, deren Wärme und Leidenschaft an die Opern jener Zeit erinnern – sind gleichsam Weltkulturerbe-Stücke. Bach nimmt sie als Glanzstücke für weitere Aufführungen mit, als er 1723 nach Leipzig wechselt, wo nun für ihn neu ist, Schulmusiker zu sein. Aber im weltoffenen Leipzig kann er wie in seinen höfischen Anstellungen aus dem Vollen schöpfen. Konzerte, Orgel-, Klavier- und Kammermusik, Oratorien, Messen, Passionen entstehen und bald allerlei Humorvolles für das Café Zimmermann, einen der Vergnügungstempel Sachsens.
Konzert mit Pause. Ende gegen 22:00.